Trinationales Verständnis

Seit Jahren bin ich am 2. Weihnachtsfeiertag bei einer befreundeten Familie in Basel zum Raclette-Essen eingeladen. Und wie jedes Jahr geht’s am Tag darauf in den „Migros“ (ein Einkaufszentrum, wer es nicht kennen sollte). Den Deutschen erkennt man daran, dass sich in seinem Einkaufskorb hauptsächlich Nudeln, Kaffee und Schokolade stapeln, die Franzosen daran, dass die Waren in den Einkaufswägen deren zulässiges Gesamtgewicht überschreiten, dazwischen die – warentechnisch gesehen – unauffälligen Schweizer.

Der 27. Dezember scheint auch in der Schweiz ein Einkaufspflichttermin zu sein. Der Stau an den Kassen entspricht durchaus dem am Grenzübergang „Freiburger Straße“ in Weil am Rhein im Verhältnis 1:1.

Zur Sitiuation dort (an der Kasse, nicht am Grenzübergang): Vor Jutta (die „Chefin“ meiner Gastgeberfamilie) und mir ein Ehepaar aus Frankreich an der „Pole-Position“, hinter uns ein Schweizer Ehepaar, dahinter (zu dieser Zeit) zwei weitere Kunden.

Der Schlagbaum war geschlossen, der Warenberg vom Team Frankreich bedurfte schließlich einer korrekten Abrechnung (was in der Schweiz ohnehin in keiner Sekunde anzuzweifeln ist). Offensichtlich konnten sich aber einige Artikel nicht ausweisen, so etwas kennt man ja auch hierzulande, wenn der Strichcode nicht mit dem Überwachungssystem korreliert. Das führt unweigerlich zu Verzögerungen, dafür hat man Verständnis.

Irgendwie erreichte die Wartezeit aber eine Dimension, die nur auf eine illegale Massenausreise im organisierten Warenverkehr schließen ließ, denn es herrschte absoluter Stillstand. Am Schlagbaum schien sich eine Art Verhör der Kundin durch die Kassiererin anzubahnen. Nach drei oder vier Artikeln über den Scanner war jeweils Schluss. Die Kassiererin beugte sich zur Kundin vor, als wollte sie das Strafmaß für Grenzvergehen verdeutlichen. Inhaltlich war nichts zu erfahren, denn zwischen Verhör und dem Rest der Warteschlange (jetzt ca. 2 Meter länger) stand der männliche französische Part, unter anderem zum Behufe, den Zweitwagen (überladen) der Abrechnung anheim zu stellen.

Nach einigen Minuten wurde aber dann deutlich, dass das Verhör eher einer freundlichen Unterhaltung glich, der eine gute Bekanntschaft der Beteiligten zugrunde liegen musste. Drei Artikel über den Scanner, vorbeugen, 30 Sekunden Unterhaltung, drei Artikel über den Scanner, vorbeugen…..
Der Warenberg vor uns ließ keinen Zweifel: die Einnahme des Mittagessens zur vorgegebenen Zeit war bereits um 11 Uhr gefährdet. Massive Proteste waren nur eine Frage der Zeit. Aber es kam ganz anders.

Nach erstem Genuschel mit Jutta drehte ich mich zur Schweizer Familie um und sagte nur: „Herzig“. Die Eidgenossen hatten natürlich die Situation längst erfasst und die Antwort war lediglich: „Joh, de Plausch!“

Ich muss zugeben, inzwischen hatte die Schweiz und Deutschland hinter Frankreich den Unterhaltungswert dieser Situation erkannt und wir konnten kaum erwarten, dass die drei Artikel über den Scanner geführt waren, um die stoische Ruhe zu bewundern, mit der die Kassiererin (eine Elsässerin, wie wir jetzt in Wortfetzen hören konnten) anschließend die nächsten 30 Sekunden der Unterhaltung einläutete. Insgesamt standen wir vielleicht 10 Minuten in Warteposition. (Oder waren es 30? Wir hatten jegliches Zeitgefühl verloren.)

Hinter den amüsierten Ländern hatte sich die Warteschlange inzwischen deutlich verlängert, das Ende musste irgendwo hinter der Biegung der letzten Regale liegen. Und erstaunlich genug: es gab keinerlei Proteste. Der Grund mag dem vorangegangenen Weihnachten geschuldet sein. Ich persönlich habe folgende Begründung für das lautlose Ertragen der Wartezeit: die ersten Reaktionen auf die Situation. Sie fielen freundlich aus. Diese positive Stimmung konnte den weiteren Wartenden nicht entgangen sein. Sie übertrug sich. Wenn „die da vorne lachen“ dann muss die Wartezeit einen nachvollziehbaren Grund haben, der keinerlei Beschwerde zulässt.

Die Franzosen waren abgefertigt (wobei dieser Ausdruck der wohl unpassendste ist), wir waren an der Reihe. Die Schweiz, jetzt an Position zwei, warf nur ein feundliches „Bonjour, Madame!“ voraus, worauf die Kassiererin freundlich grinste und den Zeigefinger an den Mund legte. Auch diese Geste ließ Raum für Interpretationen. Meine Deutung ließ ich in ein „Ich verrate nichts!“ einfließen. Die Kassiererin legte wieder den Zeigerfinger an den Mund und scannte in ordentlichem Tempo ein. Unterdessen warb sie um Verständnis für ihr „ungeheuerliches Verhalten“.
„Wissen Sie, den ganzen Tag hier ohne Tageslicht, ohne Unterhaltung, ohne Abwechslung, dann tut es schon gut, wenn man mal ein bisschen reden kann.“

Was wäre dem hinzuzufügen? Wir haben bezahlt und einen „schönen“ Tag gewünscht, ohne zu bedenken, dass der Tag der Kassiererin sicherlich etlicher Schönheiten entbehren würde.
Jetzt war auch Deutschland durch und die Schweiz wird ähnliche Sympathiepunkte für das „Hindernis“ an der Kasse vergeben haben.

Einen menschenfreundlichen Arbeitsplatz. Wir sollten ihn nicht nur fordern, wir sollten auch bereit sein, ihn zu ertragen.

(Foto: Pixabay)

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